F. M. Schnack: Zwischen geistlichen Aufgaben und weltlichen Herausforderungen

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Titel
Zwischen geistlichen Aufgaben und weltlichen Herausforderungen. Die Handlungsspielräume der Mindener Bischöfe von 1250 bis 1500


Autor(en)
Schnack, Frederieke Maria
Reihe
Vorträge und Forschungen – Sonderbände
Erschienen
Ostfildern 2022: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
866 S.
Preis
€ 86,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Sembdner, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die vorliegende Studie ist die für den Druck geringfügig überarbeitete Dissertation der Autorin, mit der sie im Wintersemester 2019/2020 an der Christian-Albrechts-Universität Kiel bei Oliver Auge promoviert worden ist. Ziel der Arbeit ist es „exemplarisch am Beispiel der Mindener Bischöfe die Handlungsspielräume geistlicher Reichsfürsten“ (S. 21) im Spätmittelalter zu untersuchen. Die Bischöfe des Reiches führten Krummstab und Schwert zugleich und verdeutlichen daher in ihrer herrschaftlichen Doppelfunktion eindrücklich die enge Verschränkung von Kirche und Welt im Mittelalter. Dies macht sie als Untersuchungsgegenstände überaus attraktiv, stellt ihre Erforschung aber auch vor besondere methodische Herausforderungen. Die strukturelle Analyse der Handlungsfelder und Handlungsmöglichkeiten des spätmittelalterlichen Episkopats, insbesondere jener Bischöfe des Reiches, die eher zum „Durchschnitt“ gehörten und als „mindermächtig“ galten, ist nach wie vor ein drängendes Desiderat der Forschung. Frederieke Schnacks Arbeit schließt daher eine ganz erhebliche Forschungslücke und dürfte ohne Zweifel Ausgangspunkt zahlreicher zukünftiger Forschungen sein.

Die Arbeit ist streng systematisch in zehn Kapitel aufgebaut, die die einzelnen Facetten bischöflichen Handels beleuchten. In der Einleitung (Kap. I, S. 17–49) stellt die Verfasserin die methodischen Grundlagen, den nicht gerade üppigen Forschungsstand sowie die nicht unbedingt schlechte Überlieferungslage dar. Zurecht weist sie darauf hin, dass sich insbesondere ältere Forschungen in biographischen Darstellungen erschöpfen, ohne die „Multikausalität bischöflichen Handelns“ (S. 34) ausreichend in den Blick zu nehmen. Umso mehr vermisst man im Literaturverzeichnis einschlägige Studien wie jene von Rainald Becker1 oder jüngere Publikationen2, die sich dem Thema strukturgeschichtlich und multiperspektivisch nähern. Der methodische Aufbau der Studie überzeugt den Rezensenten dabei weitaus mehr als die dahinterstehende definitorische Konzeption des leitmotivisch verwendeten Begriffs der „Handlungsspielräume“, welche Oliver Auge in seiner Habilitationsschrift eingeführt hat.3 So überzeugend die konsequente Einbeziehung sozialer und kultureller Dimensionen in Form einer Konstellationenanalyse bei der Untersuchung politischen Handelns von Fürsten wie Bischöfen ist, so sehr erscheint der geradezu mantraartig vorgetragene Begriff der „Handlungsspielräume“ als weitgehend inhaltsleer. Ausgehend von den Überlegungen des Greifswalder Philosophen Werner Stegmeier, wonach der „Spielraum“ eine „geregelte Grenze ungeregelten Verhaltens“ sei, seien Handlungsspielräume „diejenige sich dem Fürsten darbietende ‚Möglichkeit‘, auf die verschiedenen, sich in allen denkbaren Handlungsbereichen stellenden ‚Herausforderungen‘ […] frei, also ohne jegliche regulierend wirkende Einschränkungen zu reagieren.“ (S. 22) Nimmt man diese Definition beim Wort, dann wird nicht das aktive Handeln von Fürsten bzw. Bischöfen untersucht, sondern allein deren „Reaktion“ auf äußere Einflüsse, mithin also Verhalten im klassischen Sinn. Neben diese begriffliche tritt eine definitorische Unschärfe, denn die Unmöglichkeit der Reaktion scheint mithin ausgeschlossen zu sein. Es ist zudem kaum vorstellbar, dass Fürsten bzw. Bischöfe „frei“ und ohne „regulierende Einschränkungen“ handeln können, es sei denn, man beschränkt dies auf Praktiken ohne jeglichen sozialen Bezug. Was damit gemeint sein soll, bleibt unklar und aufgrund der vorhandenen Quellen eine Blackbox. Ohnehin steht vielmehr das Ausloten von Interdependenzen der Bischöfe in unterschiedlichen politischen wie sozialen Konstellationen („Koordinaten“) im Mittelpunkt der Untersuchung, um so die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit abzustecken. „Freies“, „unreguliertes“ Handeln im Sinne der gebotenen Definition ist dies eben gerade nicht, zumal an keiner Stelle ein Wirkmechanismus aufgezeigt wird, wie sich aus Kontakten und Interaktionen Handlungsspielräume ergeben.

Kapitel II (S. 51–82) steckt die historischen Rahmenbedingungen ab, die Gründung Mindens als sächsisches Missionsbistum im 8. Jahrhundert, die Bedeutung der Bischöfe als Stütze bzw. Gegner der Könige im ottonisch-salischen Reich sowie die weitere Entwicklung unter den Staufern bis 1250. Macht- und reichspolitisch spielten die Mindener Bischöfe durchweg in einer unteren Liga und sahen sich zudem ständigem Druck benachbarter Grafenfamilien ausgesetzt, die den Aktionsradius der Bischöfe zunehmend verengten bzw. regionalisierten. Kapitel III (S. 83–143) untersucht im ersten Teil Wege ins Mindener Bischofsamt über kanonische Wahl, päpstliche Provisionen und verwandtschaftliche Hilfe. Entscheidend war ein ausreichend großer Einfluss regionaler Mächte auf das Domkapitel. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich einer ausführlichen Rekonstruktion des Verwandtschaftssystems der Mindener Bischöfe anhand ihrer Herkunft und ihrer Ämter und Funktionen vor dem Eintritt ins Bischofsamt, ihrer Verwandten im geistlichen und weltlichen Stand sowie verwandtschaftlicher Heiratsverbindungen.

Das umfangreiche Kapitel IV (S. 145–263) befasst sich mit dem Handeln der Bischöfe in geistlichen Institutionen und Kontexten und dem Stellenwert der Interaktion zwischen klerikalen Institutionen und Personen. Die Verfasserin kann eine eindeutige Kurienferne ausmachen, auch wenn die Bischöfe von Zeit zu Zeit als päpstliche Beauftrage agierten. Gute Kontakte pflegte man zum Kölner Metropoliten und benachbarten Suffraganbistümern. Mit dem Domkapitel erwuchs den Bischöfen ab der Mitte des 13. Jahrhunderts ein entscheidender Gegenpart bei der Regierung und Verwaltung von Bistum und Hochstift, welches sich durch die Wahlkapitulation von 1348 endgültig emanzipierte. Die geistlichen Aufgaben der Bischöfe, mithin der genuine Markenkern des Amtes, wird allerdings recht knapp behandelt und weitgehend auf die Frage von Weihehandlungen beschränkt. Sicher gehören auch die verhandelten Fragen der Klosterförderung und -reform, der Mehrfachbepfründung, Ämterhäufung, Pilgerfahrt und Reliquienerwerb in einen geistlichen Kontext. Doch die kirchliche Verwaltung und Organisation des Bistums sowie die bischöfliche Gerichtsbarkeit hat Schnack nicht im Blick. In der kirchlichen Rechtsprechung und bischöflichen Statutengesetzgebung sowie in Fragen der Benefizienverwaltung und der Aufsicht über kirchliche Ämter dürften sich spätmittelalterlichen Bischöfen erhebliche Handlungsspielräume ergeben haben, ganz unabhängig von verwandtschaftlichen und politischen Konstellationen. Freilich mögen diese Aspekte aufgrund mangelnder Quellen nicht immer zu greifen sein und in den untersuchten Interaktionskonstellationen nur bedingt aufscheinen. Die dezidierte Einschätzung der Verfasserin, dass die Ausübung kirchlicher Aufgaben eindeutig hinter weltlichen und politischen Belangen zurücktrat, mag sich daher nicht zuletzt durch Quellenlage und Forschungsdesign ergeben.

Kapitel V (S. 266–303) untersucht die verfassungsrechtliche Stellung der Bischöfe und ihre Kontakte zum Reichsoberhaupt. Engere Bindungen ergaben sich vorrangig über verwandtschaftliche Beziehungen oder Dienstverhältnisse. Die Durchsetzung königlicher Privilegien scheiterte oftmals an der sehr begrenzten Machtbasis der Mindener Bischöfe, ihrer vergleichsweise geringen finanziellen und militärischen Leistungsfähigkeit. Reichsversammlungen besuchten sie so gut wie nie, sondern konzentrierten sich weitgehend auf ihr Hochstift. Komplementär dazu nimmt Kapitel VI (S. 305–372) bischöfliches Handeln in verwandtschaftlichen Beziehungen in den Blick. Territorialpolitische Absichten dominierten die Bemühungen benachbarter Dynastien um den Bischofsthron aufgrund der günstigen geographischen Lage des Hochstifts zwischen der Grafschaft Schaumburg, der Herrschaft Lippe und dem Hochstift Paderborn. Dementsprechend investierten die Dynastien mehr in die Unterstützung ihres bischöflichen Verwandten, als dass dieser sie unterstützt hätte. Die bischöfliche Handlungsfähigkeit steht und fällt für die Verfasserin grundsätzlich mit den verwandtschaftlichen Bindungen. Erst aus diesen habe sich bischöfliches Handeln überhaupt ergeben, doch bischöfliche Handlungsspielräume mochten sich aufgrund verwandtschaftlicher Eingriffe auch enorm verengen.

Kapitel VII (S. 373–534) betrachtet das bischöfliche Wirken bei der Verwaltung des Hochstifts und bei der Ausgestaltung von Bündnispolitik. Ganz wesentlich sind diese Fragen mit den in Kapitel VIII (S. 535–605) behandelten finanziellen Ressourcen und der bischöflichen Finanzpolitik verbunden. Im Hochstift selbst traten mit dem Domkapitel, der Bischofsstadt Minden und den Edelherren vom Berge drei Konkurrenten auf. Tragende Säule der Hochstiftsverwaltung waren laut Schnack die bischöflichen Burgen, die zugleich als Verpfändungsobjekte kurzfristig finanzielle Ressourcen freisetzen konnten, was aber natürlich langfristig bischöfliche Handlungsoptionen einschränkte. Bündnispolitisch wandten sich die Mindener Bischöfe im Laufe des Spätmittelalters den Welfen und Askaniern zu, wobei sie im Herrschaftsgefüge der Dynastien allenfalls reagierten, statt eigenständig zu agieren. Einnahmen aus der wirtschaftlichen Grundausstattung des Hochstifts reichten kaum aus, um die bischöflichen Ausgaben zu decken, Subsidien, Verkäufe und Verpfändungen vermochten nur situative Erleichterung zu verschaffen. Es herrschte permanenter Mangel und die „multikausale Verpfändungspolitik“ (S. 580) sei „geostrategisch alles andere als frei von Risiken“ (S. 582) gewesen. Stetiger Verlust von Besitz und Rechten schränkte die Handlungsoptionen der Mindener Bischöfe massiv ein. Erstaunlicherweise aber kommen in diesen umfangreichen Kapiteln weder die bischöfliche Kanzlei noch der bischöfliche Hof zur Sprache. Ergaben sich aus schriftlicher Verwaltungspraxis und den spezifischen Personenkonstellationen im Umfeld des Bischofs etwa keine Handlungsspielräume?

Das abschließende Kapitel IX (S. 607–655) nimmt Repräsentationsformen als Ausdruck bischöflicher Herrschaftsansprüche in den Blick. Einzüge ins Bistum und in die Bischofsstadt inszenierten die geistliche Herrschaft des Bischofs, während die seit dem 14. Jahrhundert aufkommende Darstellung familiärer Wappen auf Siegeln und Münzen auf die verwandtschaftlichen Bindungen der Mindener Oberhirten verwies. Aus diesen Bindungen, so die Verfasserin, ergaben sich überhaupt erst bischöfliche Herrschaftsansprüche. Gleiches zeigt sich erneut in der Ausgestaltung der bischöflichen Grablegen. Die in Kapitel X (S. 658–675) gebotene Zusammenfassung präsentiert die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit. Deutlich kann Schnack herausstreichen, dass sich das politische bzw. weltliche Handeln der Mindener Bischöfe kaum von jenen der benachbarten Fürsten im Norden des Reiches unterschied. Ausdrücklich zu unterstreichen ist ihre Forderung, dass bei der Untersuchung von Handlungsspielräumen adliger Protagonisten auch das Agieren ihrer in den geistlichen Stand abgeschichteten Verwandten in einem gesamtdynastischen Zusammenhang zu untersuchen ist. Bischöfliches wie fürstliches Handeln geschah nicht losgelöst von familiären und institutionellen Interdependenzen, die darum einer „ganzheitlich erfassenden Analyse“ (S. 675) unterzogen werden müssten. Zugleich muss man kritisch anmerken, dass gerade die Betonung dieser äußeren, weltlichen Konstellationen den Blick auf die inneren, genuin geistlichen Handlungskomplexe im Bistum (also die eigentlichen Aufgaben der Bischöfe) zuweilen verstellen mag.

Frederieke Schnack hat eine stupende, dicht aus den Quellen heraus erarbeitete Studie vorgelegt, die trotz ihres Umfangs dank der für jedes Haupt- und Unterkapitel gebotenen Zusammenfassungen erfreulich zugänglich ist. Die Verfasserin hat damit den Standard gesetzt, hinter den keine strukturgeschichtliche Untersuchung des spätmittelalterlichen Reichsepiskopats mehr zurückkann. Der Ansatz einer multiperspektivischen Durchdringung bischöflichen Handelns in Form verschiedener, sich überlappender Konstellationsanalysen – die sicherlich noch um den einen oder anderen Aspekt ergänzt werden sollten – hat sich als überaus fruchtbar erwiesen, gerade auch in der Untersuchung von Bischöfen und Bistümern, die eher den historischen Normalfall repräsentieren, in ihrer Bedeutung für die Landes- wie Reichsgeschichte, Politik- wie Kirchengeschichte aber nicht zu unterschätzen sind.

Anmerkungen:
1 Rainald Becker, Wege auf den Bischofsthron. Geistliche Karrieren in der Kirchenprovinz Salzburg in Spätmittelalter, Humanismus und konfessionellem Zeitalter (1448–1648) (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Supplementband 59), Rom 2006.
2 Vgl. etwa Enno Bünz / Markus Cottin (Hrsg.), Bischof Thilo von Trotha (1466–1514). Merseburg und seine Nachbarbistümer im Kontext des ausgehenden Mittelalters (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 64), Leipzig 2020.
3 Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen 28), Ostfildern 2009.

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